Bild: © Dipl.-Ing. Günther Weizenhöfer
Dipl.-Ing. Günther Weizenhöfer ist Obmann beim Arbeitsausschuss NA 005-01-11 AA „Barrierefreies Bauen“ im DIN-Normenausschuss Bauwesen (NABau). Beruflich ist er als Leiter des Teams Pre Sales Development bei der GEZE GmbH tätig.
Als Obmann des Arbeitsausschusses „Barrierefreies Bauen“ war er bei der Entstehung der DIN EN 17210 hautnah dabei und leitet nun auch die notwendige Überarbeitung der deutschen Normenreihe DIN 18040 - „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen“ mit ihren drei Teilen zu Barrierefreiheit in öffentlich zugänglichen Gebäuden, in öffentlichen Verkehrs- und Freiräumen und in Wohnungen.
Diese Aktualisierung ist unter anderem erforderlich, weil die fast 300-seitige DIN EN 17210 – „Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umwelt - Funktionale Anforderungen“ im August 2021 veröffentlicht wurde. Sie beschreibt als erste europäische Norm die Anforderungen an Barrierefreiheit im Bauwesen. Allerdings legt sie nur funktional die Anforderungen fest, die bei der Planung und Errichtung barrierefreier Außenanlagen und Bauwerke an Zugänglichkeit und Nutzbarkeit gestellt werden. Die technischen Leistungsdaten aber liefert für Deutschland weiter die Normungsreihe DIN 18040.
Bauprofessor: Herr Weizenhöfer, wie und wann ist es dazu gekommen, dass man sich auf europäischer Ebene mit dem barrierefreien Bauen beschäftigt hat. Gab es einen bestimmten Anlass?
Günther Weizenhöfer: "Barrierefreiheit ist eine Grundvoraussetzung, damit alle Menschen Zugang zur baulichen Umgebung haben und so die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle ermöglicht wird. Das gilt für die Nutzung des öffentlichen Raums ebenso wie für die Wohnungswahl oder die Wahrnehmung von Bürgerrechten. In den Mitgliedsländern Europas ist Barrierefreiheit unterschiedlich ausgeprägt und ein Bestreben lag sicherlich in einer Angleichung von Anforderungen.
Um das zu erreichen, kann man die Normung sehr gut nutzen und deshalb wurde bereits im Jahr 2007 ein Mandat vergeben, das Mandat M/420. Es erging seitens der Europäischen Kommission an das europäische Normungsgremium CEN und formulierte die Aufgabe „europäische Anforderungen an Barrierefreiheit bei öffentlichen Aufträgen in der gebauten Umwelt“ zu erarbeiten. Die weit gefasste Aufgabenstellung war bewusst gewählt und wurde auch im Abschlussbericht zum Mandat im Jahr 2011 verankert. Im nächsten Jahr, 2012, wurde dann eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die das Mandat in mehrere Phasen mit verschiedenen Aufgaben gegliedert hat. Es ging los mit der Recherche, Analyse und dem Aufzeigen von Defiziten in den vorhandenen Normen zur Barrierefreiheit in den Mitgliedsstaaten der EU.
Danach musste eine europäische Norm mit funktionalen Anforderungen an Barrierefreiheit entwickelt werden. Dazu gehört auch die Entwicklung eines Systems zur Konformitätsbewertung, über das dann beschrieben werden kann, inwieweit die Anforderungen der europäischen Norm zum barrierefreien Bauen bei einem Projekt der gebauten Umgebung erfüllt wurden. Schließlich braucht es Festlegungen von technischen Spezifikationen, um die Anforderungen der neuen europäischen Norm zu erfüllen."
Bauprofessor: Sie sagten, dass 2012 die Arbeitsgruppe mit der Gliederung der Aufgaben, der Recherche und Analyse der verschiedenen nationalen Normen zur Thematik begonnen hat. Wer gehörte zur Arbeitsgruppe und wie funktioniert die Arbeit an europäischen Normen in Pandemiezeiten?
Günther Weizenhöfer: "Generell funktioniert es so, dass jedes europäische Mitgliedsland zum europäischen Gremium, in dem Fall zum CEN, ein bestimmtes Spiegelgremium hat. In Deutschland ist das bei der DIN EN 17210 unser Arbeitsausschuss „Barrierefreies Bauen“ beim DIN mit ca. 20 Mitarbeitenden. Jedes Spiegelgremium entsendet Experten, die die nationalen Interessen persönlich in der europäischen Arbeitsgruppe vertreten. In Pandemiezeiten geht das virtuell per Videokonferenz. Da gab es keine Probleme, das funktioniert beides.
Die Herausforderung war eher der große Umfang der DIN EN 17210 und auch, dass grundsätzlich alles in englischer Sprache abläuft. Das betrifft besonders die Fachbegriffe. Die werden aus den einzelnen Landessprachen ins Englische übersetzt. Und dann muss geklärt werden, was damit genau gemeint ist, denn wenn diese englischen Fachbegriffe dann wieder wörtlich in andere Sprachen, bei uns ins Deutsche übertragen werden, passt das sinngemäß oft gar nicht zu den bei uns verwendeten Fachbegriffen. Da entsteht immer wieder Interpretationsbedarf und es muss eine Annäherung an die Inhalte erfolgen. Das war eine der größten Herausforderungen."
Bauprofessor: Nachdem der erste Aufgabenblock „Recherche, Analyse und auch Defizite finden“ 2016 bewältigt war, musste nun ein Dokument her, über das man sich dann in den Mitgliedsstaaten austauschen konnte, sozusagen eine Diskussionsgrundlage zum Finden eines europäischen Kompromisses für das Thema „europäische Anforderungen an Barrierefreiheit bei öffentlichen Aufträgen in der gebauten Umwelt“. Wo kam dieser erste Normentwurf her?
Günther Weizenhöfer: "Ja, genau. Zunächst bringt ein Mitgliedsland einen Normungsvorschlag ein, über den dann entschieden wird. Wird der Antrag mehrheitlich positiv beschieden, wird ein Normentwurf erarbeitet. Meist sind es Mitglieder aus den Spiegelausschüssen der Mitgliedsländer, die sich hier einbringen. Bei der DIN EN 17210 gab es aber eine Besonderheit. Da wurde der Normentwurf nicht von den Ehrenamtlichen der europäischen Spiegelgremien erarbeitet, sondern von einem bezahlten Expertenkreis aus verschiedenen europäischen Ländern. Den Entwurf auf diese Weise erarbeiten zu lassen, kann durchaus vorteilhaft sein. Denn die Experten haben ja hauptamtlich am Entwurf der Norm gearbeitet und waren dadurch sicher auch effizienter. Sie haben dann im Mai 2019 den ersten Entwurf der DIN EN 17210 vorgelegt."
Bild 149 aus DIN EN 17210 - Beispiel für einen barrierefreien Servicepunkt am Strand
Bild: © f:data GmbH
Bauprofessor: Dieser Entwurf wurde an die nationalen Normungsorganisationen in der jeweiligen Landessprache verteilt, aber von Ihrem Arbeitsausschuss dann abgelehnt. Warum?
Günther Weizenhöfer: "Innerhalb einer Einspruchsfrist kann jeder seine Einsprüche vortragen. Das geht schriftlich oder auch persönlich in der Einspruchssitzung. Da kam einiges zusammen. Wir haben alles gesammelt und darüber beraten. Dann wurden die Einwände ins Englische übersetzt und eine Stellungnahme ebenfalls in Englisch geschrieben und wir haben daraufhin unser Votum eingelegt."
Bauprofessor: Danach ging die DIN EN 17210 sozusagen in die nächste Runde. Im CEN-Gremium wurden die Einsprüche der Mitgliedsländer gesichtet, bewertet, berücksichtigt oder auch nicht. Der Schlussentwurf der DIN EN 17210 wurde dann im August 2021 veröffentlicht.
Günther Weizenhöfer: "Ja, mit der Veröffentlichung des Schlussentwurfes ist der demokratische Prozess zur Erarbeitung einer europäischen Norm dann fast beendet. Hier ist es dann nicht mehr möglich, Einwände, Korrekturen, Ergänzungen, Vorschläge einzubringen. Wir hatten jetzt bei der DIN EN 17210 nur noch die Möglichkeit zu sagen, „wir stimmen zu, wir lehnen ab oder wir enthalten uns“. Dazu haben wir dann überprüft, ob unsere Anmerkungen berücksichtigt wurden und in welchem Umfang. Aber wir mussten natürlich auch schauen, ob von den anderen Mitgliedsländern Änderungen reingekommen sind und ob wir diesen Änderungen überhaupt zustimmen können.
Das war eine Menge Arbeit bei einem etwa 300-seitigen Dokument. Und letzten Endes haben wir die DIN EN 17210 abgelehnt. Aber es gab europaweit eine mehrheitliche Zustimmung und so ist es dann zur Ratifizierung gekommen. Das heißt, die DIN EN 17210 ist auch in das deutsche Regelwerk übernommen worden.
Auch zwei "Technical Reports" (Fachberichte) wurden zur DIN EN 17210 veröffentlicht. Darin werden die beschriebenen funktionalen Anforderungen technisch spezifiziert. Es werden z. B. Mindestbreiten für barrierefreie Türen festgelegt. Für Deutschland sind diese Reports aber nicht relevant, wurden also auch nicht eingeführt, weil wir die Normungsreihe DIN 18040 mit diesen technischen Leistungsdaten bereits haben. Diese weichen aber nun z. T. von der DIN EN 17210 ab. Es musste entschieden werden, ob sie zurückgezogen oder überarbeitet werden sollen."
Bauprofessor: Die Entscheidung ist zugunsten der Überarbeitung der deutschen Normenreihe DIN 18040 - „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen“ gefallen, oder?
Günther Weizenhöfer: "Genau, wir haben uns entschlossen, diese Normenreihe zu überarbeiten und widerspruchsfrei zur DIN EN 17210 zu bekommen. Für diese Überarbeitung haben wir eine Frist von 36 Monaten inklusive aller erforderlichen Abläufe, von Einspruchsberatung bis zum Druck der Auflagen. Das ist schon die längste verfügbare Zeit. Normalerweise, also bei ca. 30-seitigen Normen, geht das alles sehr viel schneller. Das heißt aber auch, wir müssen Ende dieses Jahres schon mit der Bearbeitung fertig sein, damit dieser Zeitrahmen überhaupt eingehalten werden kann."
Bauprofessor: Wie wollen Sie das in der kurzen Zeit schaffen?
Günther Weizenhöfer: "Wir haben im Ausschuss Arbeitsgruppen gebildet, die einzelne Themen bearbeiten und die Dinge vorbereiten, und wir haben eine sehr enge Taktung unserer Treffen. Statt vierteljährlich treffen wir uns monatlich. Außerdem nutzen wird diese Überarbeitung natürlich nicht nur um die Normenreihe DIN 18040 widerspruchsfrei zur DIN EN 17210 zu bekommen, sondern auch um Themen zu ergänzen und an der einen oder anderen Stelle der Normen nachzuschärfen. Schließlich liegt die letzte Überarbeitung dieser Normenreihe zehn Jahre zurück, sodass sich in dieser langen Zeit auch unabhängig von der neuen DIN EN 17210 einiges an Überarbeitungsbedarf angesammelt hat."
Bauprofessor: Zum Überarbeitungsbedarf aus den vergangenen 10 Jahren kommt nun noch der Überarbeitungsbedarf bzgl. der DIN EN 17210 hinzu und diese ist, wie bereits erwähnt, mit etwa 300 Seiten auch ein ziemliches Schwergewicht. Was macht diese Norm so umfangreich?
Günther Weizenhöfer: "Die DIN EN 17210 formuliert Anforderungen an Barrierefreiheit für eine Vielzahl von Gebäudearten in den Bereichen Wohnen, Kulturstätten, Verwaltungsgebäude, aber auch für den Außenbereich. So werden auch Strände, Parks, Naturlandschaften betrachtet oder Einrichtungen des Transports wie Taxi, Bus, Bahn, Flughafen und Seilbahn. Alles ist inhaltlich viel weiter gefasst als bei uns in Deutschland. Da kommt z. B. das Thema Allergien in verschiedenen Abschnitten auf oder die Beduftung von Räumen. Es sind also auch Themen aus dem gesundheitlichen Bereich mit angeschnitten und dadurch ergeben sich natürlich auch gewisse Redundanzen. Wir als deutscher Arbeitsausschuss „Barrierefrei Bauen“ hätten lieber mehrerer Teile aus der DIN EN 17210 gemacht.
Für die Planer*innen in Deutschland spielt die DIN EN 17210 so keine Rolle. Es sei denn, ein*e Auftraggeber*in fordert explizit deren Einhaltung. Aber selbst dann fehlt es an messbaren Werten, da sich keine Zahlen, Daten, Fakten darin finden. Diese gibt es weiter in den Normen der Reihe DIN 18040, in der jetzt gültigen und bald überarbeiteten Fassung. Diese Normenreihe ist für die Planung von barrierefreien Gebäuden, Anlagen, Straßen, Plätzen oder Wohnungen in Deutschland weiter relevant. "
Bauprofessor: Vielen Danke, Herr Weizenhöfer, für die detaillierten Einblicke in die Entstehung einer europäischen Norm am Beispiel der DIN EN 17210 - „Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umwelt - Funktionale Anforderungen“ und für den Ausblick auf die Überarbeitung der Normenreihe DIN 18040 in Ihrem Arbeitsausschuss NA 005-01-11 AA „Barrierefreies Bauen“.