07.12.2022 | Bauprozess/Bauablauf

Höhere Gewalt oder nicht? Lieferengpässe von Bauprodukten richtig bewerten

Unvorhersehbare Ereignisse können zu Verzögerungen von Lieferungen führen.
Unvorhersehbare Ereignisse können zu Verzögerungen von Lieferungen führen. Bild: © f:data GmbH
Die Bauwelt ächzt derzeit nicht nur unter steigenden Material-Kosten. Auch die Lieferengpässe bei Bauprodukten machen Baubeteiligten schwer zu schaffen. Daher befassen wir uns im Folgenden genau mit dieser Frage: Was müssen wir rechtlich beachten, wenn Materialien nachweislich auf absehbare Zeit gar nicht oder vorübergehend nicht durch das Unternehmen beschaffbar sind?
Die Grundstruktur ist klar: Der Unternehmer hat dem Auftraggeber die Fertigstellung seiner Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt versprochen. Damit ist der Unternehmer verantwortlich für die pünktliche Leistung. Er muss rechtzeitig und ausreichend Personal und Material auf der Baustelle haben. Gelingt ihm dies nicht, so ist er dafür verantwortlich. Er gerät in Verzug mit der Fertigstellung der Leistung und ist damit schadensersatzpflichtig.
Etwas anderes gilt nur, wenn der Unternehmer in der Ausführung seiner Leistung behindert ist und diese Behinderung verursacht wird durch z. B. höhere Gewalt oder andere für den Auftragnehmer unabwendbare Umstände, vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 1 c VOB/B.
Hinzu kommt natürlich, dass der Auftragnehmer entsprechende Behinderung angezeigt hat, oder die Tatsache und deren hindernde Wirkung für den Auftraggeber offenkundig bekannt war. Deshalb muss der Auftragnehmer bei Lieferschwierigkeiten für Baumaterialien unbedingt eine solche Behinderungsanzeige stellen, da für das konkrete Produkt in der Regel eine Offenkundigkeit für den Auftraggeber ausscheidet.

Wann spricht man von höherer Gewalt?

Wesentliche Frage ist also, ob hier „höhere Gewalt“ oder andere für den Auftragnehmer unabwendbare Umstände vorliegen. Weder die Auswirkungen der Pandemie noch die des Krieges in der Ukraine kann ein Auftragnehmer bei verständiger Würdigung des Sachverhaltes abwenden. Dazu bedarf es sicherlich keiner großen Ausführung. Was könnte denn ein Auftragnehmer tun, um die Auswirkungen abzuwenden? Was könnte er tun, um Lieferkettenunterbrechungen zu beseitigen? Wir gehen ja in der Grundstruktur davon aus, dass das entsprechende Produkt für den Unternehmer gar nicht verfügbar ist, auch nicht gegen die Zahlung eines höheren Preises. Damit sind die Pandemie und der Krieg – schon einzeln, erst recht aber gemeinsam – sicherlich und völlig offensichtlich für den Auftragnehmer objektiv unabwendbar.
Hier aber direkt zu einer Anwendbarkeit des § 6 Abs. 2 Nr. 1 c VOB/B zu kommen, wäre zu kurz gedacht, denn bereits am 30.05.1974 hat der Bundesgerichtshof zum Aktenzeichen III ZR 190/71 entschieden, dass die so genannte höhere Gewalt ein „außergewöhnliches, betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis ist, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist und mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann“. Wesentlicher Faktor in der Argumentation des Bundesgerichtshofes ist daher hier die „Unvorhersehbarkeit“.
Sicherlich war daher bei Vertragsschlüssen vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland ebenso wie kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland das Thema der Lieferkettenunterbrechungen „unvorhersehbar“. Niemand in der gesamten Baubranche hätte sich sicherlich die Auswirkung einer Pandemie im Hinblick auf Lieferkettenunterbrechung vorher so vorstellen können. Diese Auswirkungen hat sich auch niemand vorgestellt! Genauso war für uns alle unvorstellbar, dass wir einmal das erleben müssen, was wir bisher nur aus Geschichtsbüchern kannten, nämlich einen Krieg in Europa. Vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine war dies für uns alle unvorstellbar. Noch unvorstellbarer war für uns, welche Auswirkungen ein solcher Krieg auf Lieferketten und die Lieferung von Bauprodukten insgesamt haben würde.

Konkreter Grund im Verhältnis zum konkreten Zeitpunkt

Nun läuft die Pandemie ebenso wie der Krieg aber schon einige Zeit. Wenn ich nun heute als Unternehmer einen Vertrag abschließe, dann müssen wir ehrlicherweise festhalten, dass Lieferengpässe für Bauprodukte wohl kaum noch als „unvorhersehbar“ angesehen werden können. Und damit würde nach der Definition des Bundesgerichtshofes höhere Gewalt ausscheiden!
Streng genommen müssen wir hier im Rahmen der juristischen Prüfung sogar sauber differenzieren: Auch bei Lieferengpässen im Hinblick auf einen Vertrag, der Ende 2021 bereits abgeschlossen wurde, können wir nicht automatisch sagen, dass sie auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen sind. Der Lieferengpass kann genauso auf Auswirkungen der Corona-Pandemie beruhen. Tut er dies, so war dies aber zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bereits „vorhersehbar“. Der Krieg hatte noch nicht begonnen. Aber Lieferengpässe aufgrund der Pandemie wirkten noch fort. Wie Sie sehen, verbieten sich bei diesem Thema die leider sehr beliebten einfachen Standard-Antworten. Die Sache ist komplex. Wir müssen tatsächlich sauber ermitteln, worauf der Lieferengpass zurückzuführen ist. Ist für das Produkt ein Chip erforderlich, der aufgrund der Pandemie derzeit nicht geliefert werden kann? Dann ist die Situation – je nach Datum des Vertragsabschlusses –anders zu bewerten, als wenn Stahl aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht geliefert werden kann. Der – konkrete – Grund ist ins Verhältnis zu dem – konkreten – Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu setzen. Womit musste ein Unternehmer nach menschlicher Einsicht und Erfahrung zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses rechnen?
Für Neuverträge heißt dies aber auch: Der Unternehmer muss darauf achten, dass für diese – bekannte oder absehbare – Problematik eine vertragliche Regelung geschaffen wird, da er ansonsten vollständig haftet.
Markus Cosler
Ein Artikel von
  • Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
  • Lehrbeauftragter für Nachtragsmanagement an der FH Aachen
  • Kanzlei Delheid Soiron Hammer, Aachen
  • Web: www.delheid.de
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